Sie nennen sich untereinander „Leute“. Aber schenken sich nichts. Sie rufen „Schwesternverprügelung!”, fallen giggelnd und gaggelnd auf der Rückbank im Auto übereinander her. Sie zoffen sich, zanken aufs Blut. Und halten sich im nächsten Moment bei der Hand.
Ich freue mich, wenn ich seh‘, dass meine Kinder ein Team sind. Wenn sie sich einander zugehörig fühlen, füreinander da sind, genau deuten können, was in der anderen vorgeht, was sie beschäftigt, belastet, und wissen, was sie vielleicht gerade braucht. Leider funktioniert dieses Wissen auch andersrum. Denn mindestens genauso gut, wenn nicht sogar ein bisschen besser, wissen meine Kinder, was die jeweils andere gerade so gar nicht braucht! So können sie sich triezen wie die Weltmeister:innen, einander quälen und „povozieren“ - wie eins unserer Kinder mal so schön sagte.
Ein Team sind meine Kinder dann, wenn’s um was geht.
Wenn’s drauf ankommt. Da draußen. In der Welt, die unmittelbar auf der anderen Seite unserer Türschwelle beginnt. Zuhause könnte man durchaus meinen, sie hassen sich. Manchmal sagen sie das auch, dann sage ich mit betont tiefer Stimme lang gedehnt: „Hassen ist ein starkes Wort!“ Meine Kinder rollen dann mit den Augen, nehmen es aber nicht zurück, ihr „Ich hasse dich!“
„Die streiten auf ne gute Art,“ raunt mir in den Ferien unser Nachbar zu.
„Ich hab sie gestern beobachtet. Es ging um ne Taucherbrille. Du weißt schon, die mit der Nase dran.“ Bevor ich fragen kann, wie er das meint, zieht er auch schon weiter seine Bahnen. Ich wische mir das Chlorwasser vom Kinn und hänge mich mit Blick in Richtung meiner Kinder an den Beckenrand. Mindestens eins hat gleich keine Nase mehr, so streiten sie sich.
Mit bösem Blick zische ich ihnen ein „Pscht!“ zu, das die munteren Urlaubsgespräche sämtlicher Pool-Besucher mit sofortiger Wirkung verstummen lässt. Wie können sich meine Kinder schon wieder um ein und dieselbe Taucherbrille streiten, wo wir exakt diese in vierfacher Ausführung haben, in der einzigen Absicht, genau diesen Streit zu vermeiden?!
„Wir verletzen uns nicht mit Worten und nicht mit Taten! Das lernen die im Kindergarten! Jetzt sind die alle in der Schule und können’s immer noch nicht?!“, rolle jetzt ich mit den Augen, als unser Nachbar wieder neben mir auftaucht. Er fummelt sich die Schwimmbrille über die Badekappe und lacht: „Hör‘ ma! So schulen die sich gegenseitig in sozialer Kompetenz!“
Vor meinem inneren Auge ziehen all die Nachmittage vorbei, die meine Kinder dafür nutzten, sich ausgiebig zu verkloppen. Das tun sie bis heute. Besonders gern, so scheint mir, wenn Ferien sind. Was mich immer beruhigt, ist die Geschichte meiner Mutter. Sie wird nicht müde, mir zu erzählen, wie es meine beiden kleineren Geschwister im Urlaub auf der Sinai-Halbinsel noch im fast erwachsenen Alter schafften, sich über acht Tage ohne Unterbrechung an die Gurgel zu gehen. „Nie wieder fahr‘ ich mit euch weg!“, soll sie nach Aussage meiner Schwester gebrüllt haben. Was ich nicht ganz glauben kann, denn meine Mutter brüllt eigentlich nicht. Aber das ist ja so eine Sache mit dem Eigentlich… Und es gibt Situationen…
Naja. Ich kann jedenfalls brüllen wie eine Löwin. Und schäme mich manchmal dafür. Oft aber auch nicht. Zum Beispiel, wenn meine Kinder mich im Urlaub daran erinnern, dass ich vor vielen Jahren regelmäßig lautstark gedroht haben soll:
„Wer heult, fliegt nach Hause!“
Seither ist das bei uns so ein geflügeltes Mallorca-Wort. Geheult wurde dort schon oft. Geheult wird dort immer noch. Nach Hause geflogen sind wir aber doch immer noch zusammen. Zumindest bisher. Eifersüchteleien, Konkurrenz, der permanente Kampf um Aufmerksamkeit unter Geschwistern, aber auch der um Taucherbrillen oder das letzte Karamellköpfli im Kühlschrank – Das gehört wohl irgendwie zum schönsten Urlaub dazu. Vielleicht sind Ferien sogar das perfekte Trainingslager in Sachen Sozialkompetenz?
„Was mach‘ ich nur mit denen?“, schüttele ich dennoch den Kopf und hebe meine Sonnenbrille an. Unser Nachbar zögert, dann prustet er los: „Ich hab ja keine Kinder. Aber – Jahrzehnte her! – an Seeschnecken geforscht. Ob das mit dem Lernen besser durch Belohnung oder durch Bestrafung geht. Bedauerlichweise muss ich dir sagen: Bestrafung führte auch zu erstaunlichen Erfolgen!“
Jetzt lachen wir beide. So laut, dass die Kinder am anderen Ende des Pools neugierig aufblicken. Die Jüngste schnappt sich die Taucherbrille mit der Nase dran und taucht blitzgeschwind hinter ihren Schwestern ab. Wenn das nicht gleich ne Verprügelung gibt! Ich weiß schon, wer am Ende heult. Alle vier! Dann können die nach Hause fliegen!
Vielleicht geht es im Urlaub gar nicht um Erziehung. Das ist ja eh so eine Sache. An ihnen ziehen wollen wir ja eh nicht. Wir wollen, dass sie von alleine wachsen. Von daher geht es vielleicht auch gar nicht darum, Streit zu vermeiden. Vielleicht geht es mehr darum, die täglichen Diskussionen, die fiesen Attacken, das fortwährende Gezanke auszuhalten. Als etwas anzuerkennen, das nötig ist für ihre Entwicklung. Der Vorteil dieser Auseinandersetzungen, Reibereien und ja: Schwesternverprügelungen – seien sie nun körperlich oder verbal - liegt nämlich auf der Hand: Durchsetzen können sich bei uns alle. Das haben sie gelernt. Schon jetzt.
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